Carsten Linnemann: Projektion und Politik über Arbeitslose
Von Timo Braun – veröffentlicht durch den Ethischer Rat der Menschheit

1. Ausgangspunkt
Carsten Linnemann hat wiederholt gefordert, das Bürgergeld massiv zu verschärfen. Er erklärte, mehr als 100.000 Menschen seien grundsätzlich nicht bereit zu arbeiten. Diese Zahl wiesen Sozialverbände wie die Diakonie als unbelegt und „realitätsfern“ zurück.¹ Trotzdem benutzt Linnemann sie, um drastische Maßnahmen zu rechtfertigen: komplette Streichung der Grundsicherung für sogenannte „Totalverweigerer“.²
2. Biografische Prägung
- Elternhaus: Buchhändlerfamilie, geprägt von Fleiß, Ordnung, Dauerarbeit.
- Wehrdienst: Gehorsam, Disziplin.
- Studium/Promotion in VWL & BWL: Fokus auf Zahlen, Effizienz, Leistung.
- Beruf im Bankensektor: Hochleistungsumfeld, in dem Schwäche und „Pause machen“ kaum toleriert sind.
➙ Linnemanns Werte Eigenverantwortung, Leistung, Produktivität wurzeln in einer Biografie, in der Selbstwert mit Funktionieren gleichgesetzt wurde.
3. Psychologische Analyse
3.1 Projektion des Verdrängten
- Carl Jung (Schattenprojektion): Was er sich selbst verbietet (Pause, Schwäche), bekämpft er im Außen – hier: Arbeitslose.
3.2 Minderwertigkeitskompensation
- Alfred Adler: Überbetonung von Leistung kann ein Abwehrmechanismus gegen empfundenes „Nicht-genug-sein“ sein.
3.3 Just-World-Glaube
- Melvin Lerner: Wer stark an eine „gerechte Welt“ glaubt, hält Armut für selbstverschuldet. Das rechtfertigt Härte.
3.4 Attribution und Stigmatisierung
- Bernard Weiner: Wenn Armut als kontrollierbar gilt, erzeugt das Ärger statt Mitgefühl – und erhöht Sanktionsbereitschaft.
3.5 Deservingness-Heuristik
- Van Oorschot: Nur „tüchtige“ Bedürftige gelten als würdig. Linnemann wendet implizit die Kriterien Control und Reciprocity an: Nur wer sich bemüht, „verdient“ Hilfe.
4. Linnemanns zentrale Aussagen im Spiegel seiner Psychostruktur
- „Über 100.000 Totalverweigerer“ – Überhöhte Zahl, unbelegt → Attributionsfehler, Projektion auf „Faulheit“.
- „Grundsicherung komplett streichen“ – Maximalstrafe → hohe Straforientierung, geringe Fürsorge.
- „Nicht bedürftig, wenn Arbeit abgelehnt“ – Bedürftigkeit an Gehorsam gekoppelt → Deservingness-Filter.
- „Mentalitätswandel“ – Schuldverschiebung auf Einstellung → System-Justification.
- „Wer arbeiten kann, muss arbeiten – sonst keine Leistungen“ – Koppelung Arbeit ↔ Existenz → autoritäres Wertmuster.
- „Sozialstaat vom Kopf auf die Füße stellen, kein Missbrauch“ – Generalverdacht → Kontroll- statt Vertrauenslogik.
5. Das innere Spannungsfeld
- Gesagt: Eigenverantwortung, Produktivität, Pflicht.
- Verdrängt: Ruhe, Schwäche, Loslassen.
- Folge: Härte gegenüber Arbeitslosen, weil sie spiegeln, was er in sich selbst nicht leben darf.
Damit wird Politik zum Projektionsfeld seiner eigenen ungelösten Spannung.
6. KIW-Prüfblock: Sechs Aussagen, sechs Brüche
| Aussage | T (Trägerintegrität) | W (Wirkung) | F (Frequenz) | B (Beweisbarkeit) | Ergebnis | |---------|----------------------|-------------|--------------|-------------------|----------| | „>100.000 Totalverweigerer“ | Niedrig – ungesicherte Zahl | Hoch destruktiv | Niedrig – Abwertung | Null – Sozialverbände widersprechen | Integritätsbruch | | „Grundsicherung komplett streichen“ | Niedrig – Sozialstaatsprinzip verletzt | Sehr hoch destruktiv | Niedrig – Angst/Härte | Teilweise, aber ohne Faktengrundlage | Maximaler Bruch | | „Nicht bedürftig bei Ablehnung“ | Mittel–Niedrig – normative Verkürzung | Hoch destruktiv | Niedrig | Schwach – kein Beleg | Bruch mit Fürsorgeauftrag | | „Mentalitätswandel nötig“ | Niedrig – Schuldverschiebung | Mittel–Hoch destruktiv | Niedrig | Null – nicht messbar | Moralisierender Bruch | | „Arbeiten sonst keine Leistungen“ | Niedrig – koppelt Grundrecht an Zwang | Hoch destruktiv | Niedrig – autoritär | Null – Postulat ohne Basis | Autoritärer Bruch | | „Kein Missbrauch“ | Mittel – Systemkritik ohne Differenzierung | Mittel destruktiv | Niedrig – Misstrauen | Schwach – unquantifiziert | Generalverdacht-Bruch |
7. Merz und Linnemann – Zwei Seiten derselben Medaille
Die Aussagen Linnemanns sind kein Einzelfall. CDU-Parteichef Friedrich Merz äußert sich seit Jahren ähnlich: Arbeitspflicht, Misstrauen gegenüber Leistungsbeziehern, Forderung nach härteren Regeln.
- Merz betont, Bürgergeld dürfe „kein bedingungsloses Grundeinkommen durch die Hintertür“ sein.
- Er spricht von einer „gerechteren Balance zwischen Fördern und Fordern“ – mit klarer Betonung des Forderns.
- Öffentlich erklärte er, 5 Milliarden Euro beim Bürgergeld einsparen zu wollen – eine Formulierung, die Menschen nicht als Bürger, sondern als Kostenstelle rahmt.³
Unterschied zum Generalsekretär:
- Merz agiert strategischer, vorsichtiger, und nutzt den Tonfall des ordnenden Staatsmannes.
- Linnemann verkörpert den schärferen Vollstrecker.
Psychologisch:
- Beide teilen denselben Werteboden: Leistung, Pflicht, Misstrauen.
- Unterschied: Merz kanalisiert das Narrativ über Haushaltslogik, Linnemann spricht es ungefiltert aus.
- Zusammen stabilisieren sie ein politisches Muster, das Arbeitslose pauschal abwertet und ökonomisiert.
8. Ausblick: Dossier 2025 Band I
Dieser Artikel zeigt: Carsten Linnemann steht symptomatisch für eine Politik, die aus innerem Ungleichgewicht heraus Arbeitslose stigmatisiert.
Die vollständige Analyse – mit allen Aussagen, Strukturen und Gegenüberstellungen auch zu Friedrich Merz – erscheint in wenigen Tagen in Dossier 2025, Band I: „Das System der Armut – Wie das Jobcenter sich selbst delegitimiert“.
Dort wird das gesamte Bild sichtbar: Wie sich individuelle Projektionen, parteipolitische Narrative und strukturelle Missstände zu einem Geflecht verdichten, das nicht nur Arbeitslose trifft, sondern den Sozialstaat insgesamt aushöhlt.
9. Schlussfolgerung
Die KIW-Prüfung ergibt ein klares Muster: keine einzige der untersuchten Aussagen erfüllt Integrität, Würde, Frequenz oder Beweisbarkeit.
Carsten Linnemanns Rhetorik ist damit nicht Ausdruck verantwortlicher Politik, sondern Ausdruck einer inneren Rechnung: Er bekämpft im Außen, was er in sich selbst nicht leben darf.
Friedrich Merz rahmt dasselbe Narrativ politisch-strategisch – auch das ist kein Zeichen von Fürsorge, sondern von Abwertung.
Die entscheidende Frage lautet deshalb: Darf eine Partei, deren Spitzenpersonal ihr eigenes Ungleichgewicht zur Grundlage von Sozialpolitik macht, über das Leben von Millionen Arbeitslosen mitbestimmen?
Quellen (Auswahl)
- Diakonie Deutschland: „Aussagen von Carsten Linnemann zum Bürgergeld sind realitätsfern“, Juli 2024.
- Spiegel Online: „Carsten Linnemann will mehr als 100.000 Menschen Bürgergeld streichen“, 2024.
- Dossier 2025, Band I: Analyse zu Friedrich Merz, inkl. Aussage zu 5 Mrd. Euro Einsparungen am Bürgergeld (erscheint in Kürze).
- ZDF heute: „Linnemann fordert Mentalitätswandel beim Bürgergeld“, 2024.
- Weiner, B. (1995). Judgments of Responsibility. Guilford Press.
- Van Oorschot, W. (2000). „Who should get what, and why?“ Policy & Politics, 28(1), 33–48.
- Jost, J. & Banaji, M. (1994). „The role of stereotyping in system-justification.“ British Journal of Social Psychology.
- Lerner, M. (1980). The Belief in a Just World. Springer.
- Adler, A. (1927). Menschenkenntnis.
- Jung, C. G. (1951). Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst.