Dogmafrei über Krieg hinaus – Gewaltlogik beenden, nicht Russland

Von Timo Braun – veröffentlicht durch den Ethischer Rat der Menschheit

Symbolische Illustration: eine Weltkugel mit Rissen, umgeben von Panzer und Waffen. Verdeutlicht die globale Gewaltlogik jenseits einzelner Staaten.
Symbolische Illustration: eine Weltkugel mit Rissen, umgeben von Panzer und Waffen. Verdeutlicht die globale Gewaltlogik jenseits einzelner Staaten.

Als Wolodymyr Selenskyj im September 2025 vor der UN-Generalversammlung sprach, war seine Botschaft scharf und eindringlich: Russland müsse gestoppt werden, sonst drohe der Menschheit der nächste zerstörerische Wettlauf der Geschichte. Diese Worte griffen die verständliche Erfahrung eines Landes im Krieg auf – und zugleich das tiefe Gefühl einer Welt, die sich in einem neuen Rüstungsrausch verliert.

Doch die Verkürzung auf „Russland“ greift zu kurz. Sie blendet aus, dass die Logik des Wettrüstens nicht allein von einem Staat getragen wird, sondern ein globales Muster ist, das sich seit Jahrhunderten durchsetzt: vom atomaren Patt des Kalten Krieges über den Wettlauf im Cyberraum bis hin zu den heutigen Drohnen- und KI-Systemen.

Gerade jetzt, da autonome Waffen die Schwelle überschreiten, an der der Mensch die Kontrolle über Leben und Tod aus der Hand geben könnte, ist es unverantwortlich, die Gewaltlogik auf ein einzelnes Land zu projizieren. Die Wahrheit lautet: Nicht Russland muss gestoppt werden – sondern die Logik, nach der Macht und Sicherheit durch immer zerstörerischere Waffen definiert wird.

Historische Linien des zerstörerischen Wettbewerbs

Der Kalte Krieg war das Paradebeispiel einer Rüstungsdynamik, die nicht aus realem Sicherheitsbedürfnis, sondern aus gegenseitiger Angst gespeist wurde. Die Doktrin der Mutually Assured Destruction (MAD) machte deutlich, wie absurd der Gedanke ist, Sicherheit durch Waffen zu garantieren.

Heute wiederholt sich dieses Muster in neuer Gestalt: Nicht mehr Raketenstärke, sondern die Fähigkeit, autonome Systeme und KI-gestützte Entscheidungsmechanismen zu beherrschen, gilt als Machtfaktor. Politikwissenschaftliche Modelle von Robert Jervis und Kenneth Waltz beschrieben bereits, wie Staaten in ein Sicherheitsdilemma geraten: Jede Aufrüstung erzeugt Gegenaufrüstung – ein Prozess ohne rationalen Endpunkt.

Die jüngsten Kriege – von Bergkarabach bis zur Ukraine – zeigen, dass Drohnen- und Schwarmtechnologien die Schwelle zur Eskalation senken. Die Technik selbst ist zum Treiber des Krieges geworden.

Zahlenbasis: Globale Rüstungsausgaben und Waffenströme

Das SIPRI Yearbook 2025 belegt: Die fünf größten Exporteure – USA, Frankreich, Russland, China und Deutschland – stehen zusammen für 71 % aller weltweiten Waffenexporte⬏ 1. Auffällig ist der Rückgang russischer Exporte (nahezu halbiert seit 2015–2019), während die USA und Frankreich ihre Marktanteile ausbauen konnten.

Das widerlegt das Bild einer einseitig „russischen Bedrohung“. Der globale Waffenhandel ist ein Geflecht gegenseitiger Abhängigkeiten – nicht das Werk eines Einzelnen.

Ethik und Recht im Zeitalter der KI

Der Deutsche Ethikrat betont in seiner Stellungnahme Mensch und Maschine (2023), dass Verantwortung nicht an Maschinen delegiert werden darf⬏ 2. Entscheidungen über Leben und Tod müssen in letzter Instanz vom Menschen verantwortet werden.

Die Fachzeitschrift Ethik & Militär warnte 2024 vor einer „schleichenden Verantwortungserosion“: Je autonomer Systeme handeln, desto unschärfer wird die Schuldfrage⬏ 4.

UNIDIR dokumentierte 2025, wie stark die Staaten in der Bewertung autonomer Waffensysteme auseinanderliegen: Während einige ein vollständiges Verbot fordern, blockieren andere verbindliche Abkommen⬏ 3.

Dogmafreie Analyse

Russland ist in dieser Logik kein Ursprung, sondern ein Symptom. Projektion, Angst und Macht reproduzieren die Gewaltlogik global. Wer glaubt, Frieden durch Sieg über einen Gegner zu erreichen, verkennt das Muster.

Die Transformation verlangt, Dialogräume zu öffnen, gemeinsame Regeln für KI-Waffen zu entwickeln und das Narrativ vom Feind in eine Ethik geteilter Verwundbarkeit zu überführen.

Handlungsperspektive des ECoH

  • Internationale Ko-Regulierung: Nur gemeinsame Standards aller Großmächte können Vertrauen schaffen.
  • Verbot vollautonomer Systeme: Kein tödliches System darf ohne menschliche Kontrolle agieren.
  • Arms Control 2.0: Transparenzmechanismen für KI und Drohnen, über Inspektionen hinaus.
  • Ethik als Resonanzfeld: Nicht Macht, sondern Würde ist das Fundament legitimer Sicherheit.

Schluss: Politischer und ethischer Appell

Die Menschheit muss nicht Russland stoppen – sie muss die Gewaltlogik überwinden. Nur so lässt sich verhindern, dass KI-gestützte Waffensysteme den nächsten globalen Kollaps auslösen.

Der ECoH steht als Impulsgeber bereit: für Dialog, für Transparenz, für eine kooperative Zukunft.

Quellen

  • [⬏ 1]: SIPRI Yearbook 2025, Kapitel 5: International Arms Transfers. sipri.org
  • [⬏ 2]: Deutscher Ethikrat (2023): Mensch und Maschine – Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz. ethikrat.org
  • [⬏ 3]: UNIDIR (2025): The Interpretation and Application of International Humanitarian Law in Relation to Lethal Autonomous Weapon Systems. unidir.org
  • [⬏ 4]: Ethik & Militär (2024/1): KI und Autonomie in Waffen. ethikundmilitaer.de
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