Domino-Theorien: Kein Weg zum Frieden, sondern in die Irre
Von Timo Braun – veröffentlicht durch den Ethischer Rat der Menschheit

Hinweis des Ethischen Rats der Menschheit: Diese Veröffentlichung dient der öffentlichen Klärung eines medial verbreiteten Gedankengangs, der in seiner gegenwärtigen Form unbewusst zu weiterer Eskalation führen kann. Sie greift niemanden an – sondern ergänzt, klärt und kontextualisiert.
Anlass der Veröffentlichung
Am 9. September 2025 erschien auf globalbridge.ch ein Artikel mit dem Titel „Brandgefährliche Domino-Theorien führen in den Krieg“.
Die Autor:innen beabsichtigten, komplexe weltpolitische Entwicklungen durch die Metapher der Domino-Theorie verständlicher zu machen. Diese Absicht ist nachvollziehbar. Doch in der gewählten Perspektive entstehen Verzerrungen, die letztlich selbst kriegsverlängernd wirken können.
1. Wer spricht – und warum?
- Erich Vad, Brigadegeneral a.D. und ehemaliger Berater Angela Merkels, spricht aus sicherheitspolitischem Erfahrungswissen. Seine Aussagen sind intellektuell geschliffen, aber geprägt vom militärstrategischen Weltbild.
- Klaus von Dohnanyi, Alt-Staatsmann der Bundesrepublik, verleiht durch seine Beteiligung historische Glaubwürdigkeit, die jedoch von der politischen Prägung der Nachkriegszeit bestimmt ist.
- Éva Péli, die Interviewführende, wählt eine Form des Bestätigens, nicht des Widersprechens. Damit entsteht ein Text, der weniger Dialog als Verstärker einer einseitigen Perspektive ist.
2. Die blinden Flecken der Argumentation
Der Artikel legt nahe:
- Der Westen habe die Eskalation provoziert.
- Russland reagiere im Grunde nur rational.
- NATO-Erweiterung sei der eigentliche „casus belli“.
- Moralisches Handeln führe in die Sackgasse.
- Trump stehe für Frieden, Europa für Eskalation.
Was dabei fehlt:
-
Russlands eigenes Handeln: Russische Staatsdokumente („Außenpolitisches Konzept 2023“) betonen offen eine Wiederherstellung von Einflusszonen, nicht nur Defensivinteressen. Auch die Rede Putins vom Februar 2022 („Wiedervereinigung historischer Gebiete“) zeigt imperialen Anspruch.
-
Die Ukraine als Subjekt: In der gesamten Argumentation erscheint die Ukraine nicht als handlungsfähiges Volk, sondern als Spielfeld. Tatsächlich haben ukrainische Bürger 2019 in freien Wahlen die jetzige Regierung legitimiert und mehrfach den EU- und NATO-Kurs bekräftigt.
-
Die Unterdrückung innenpolitischer Opposition in Russland: Politische Gegner, Journalisten und zivilgesellschaftliche Organisationen wurden über Jahre eingeschränkt. Dieses Faktum gehört zum Kontext, wenn man Russland als „rational handelnd“ beschreibt.
3. Wirkung auf Leser:innen
Der Artikel bietet vielen Menschen eine Projektionsfläche:
- Wer kriegsmüde ist, fühlt sich endlich bestätigt.
- Wer NATO-skeptisch ist, bekommt eine einfache Erklärung geliefert.
- Wer die USA kritisch sieht, erkennt sich sofort wieder.
Doch diese Wirkung ist gefährlich: Sie beruhigt zwar kurzfristig, verengt aber die Perspektive auf ein entweder-oder-Narrativ. So entsteht das Gefühl, man müsse sich für eine Seite entscheiden – statt die Ganzheit zu sehen.
4. Erkenntnis oder Illusion?
| Erkenntnisgewinn | Illusion durch Auslassung | | ----------------------------------------------- | ----------------------------------------------------------------- | | NATO-Fehlentscheidungen (z. B. Bukarest 2008) | Russland erscheint ausschließlich als rationaler Akteur | | Betonung von Diplomatie & Dialog | Aggression Russlands wird relativiert | | Kritik an Militarisierung der Wirtschaft | Neue Feindbildverschiebung: USA statt Russland | | Mahnung vor Eskalation | Widerspruch: „kein Krieg“, aber gleichzeitig Aufrüstung gefordert | | Historische Tiefe (Vietnam, Kuba, Kalter Krieg) | Fehlende Opferperspektive – Ukraine bleibt Randnotiz |
5. Der eigentliche Irrtum: Reaktion statt Rückverbindung
Die Domino-Theorie beruht auf der Annahme: „Wenn ein Stein fällt, folgen alle anderen.“ Doch Gesellschaften und Staaten sind keine Steine. Sie sind lebendig, widersprüchlich und lernfähig.
Die eigentliche Gefahr liegt nicht in einem Dominoeffekt, sondern in der gedanklichen Selbstverengung:
- Wer nur reagiert (Abschrecken, Sanktionieren, Aufrüsten), bleibt in der Logik des Krieges.
- Wer aber nicht reagiert, sondern fühlt, öffnet einen anderen Weg.
Nichtreaktion ist kein Wegsehen. Sie ist die bewusste Entscheidung, nicht ins alte Spiel einzusteigen. Daraus entstehen diplomatische Räume, ziviler Widerstand, Versöhnung und Friedensprozesse.
6. Handlungsempfehlungen
Damit Leser:innen nicht nur informiert, sondern auch handlungsfähig werden, braucht es konkrete Wege:
-
Für Bürger:innen:
- Informationsquellen aus mehreren Perspektiven nutzen (z. B. UN-Berichte, OSZE-Dokumente, unabhängige NGOs).
- Lokale Friedens- und Dialoginitiativen unterstützen.
- Öffentliche Diskussionen nicht den Extremen überlassen.
-
Für Politik:
- Multiperspektivische Analysen verpflichtend in Entscheidungsprozesse einbeziehen.
- Sanktionen und Waffenlieferungen stets an klare diplomatische Initiativen koppeln.
- Russische Zivilgesellschaft und Exilstrukturen aktiv einbeziehen.
-
Für Medien:
- Interviews multiperspektivisch führen – nicht nur bestätigen.
- Fakten gegenprüfen, auch wenn sie ins eigene Narrativ passen.
- Opferperspektiven sichtbar machen: Was bedeutet der Krieg konkret für Ukrainer:innen?
7. Schlusswort: Wahrheit ist keine Meinung
Solche Artikel sind nicht falsch – sie sind Ausdruck einer Teilsicht. Doch sie bergen die Gefahr, komplexe Realitäten zu vereinfachen und damit selbst Teil der Eskalation zu werden.
Die Aufgabe des Ethischen Rats der Menschheit ist es daher:
- fehlende Realitäten zurück ins Feld zu bringen,
- Bewusstsein zu klären,
- Denkfehler heilend zu benennen.
Wer Frieden will, muss die inneren Wahrheiten aller Beteiligten fühlen – nicht nur die eigenen.