Wenn die Mitte schweigt – Verlust der Deutungshoheit

Von Timo Braun – veröffentlicht durch den Ethischer Rat der Menschheit

Abstrakte Darstellung der schweigenden gesellschaftlichen Mitte: Eine leuchtende Brandmauer reflektiert Schallwellen zwischen zwei politischen Feldern – Symbol für Kommunikationsblockade und Resonanzverlust.
Abstrakte Darstellung der schweigenden gesellschaftlichen Mitte: Eine leuchtende Brandmauer reflektiert Schallwellen zwischen zwei politischen Feldern – Symbol für Kommunikationsblockade und Resonanzverlust.

1. Ausgangspunkt – Die Illusion der klaren Grenze

Seit Friedrich Merz die „Brandmauer“ zur AfD beschwor, definiert sich die CDU weniger durch Inhalte als durch Abgrenzung. Das Ziel: moralische Reinheit. Die Folge: semantische Entleerung.

Politisch entsteht dadurch ein paradoxes Vakuum: Wer Themen wie Migration, Sicherheit oder Identität aus der eigenen Sprache verbannt, überlässt sie dem politischen Gegner – samt Deutungshoheit. Dieses Muster ist empirisch dokumentiert.

2. Politikwissenschaftliche Grundlagen

Issue Ownership

Parteien besitzen in der Wahrnehmung der Wähler bestimmte „Themenrechte“. Wer ein Thema aktiv besetzt, gilt als glaubwürdig. Verzichtet eine Partei auf eigene Rahmung, überträgt sie unwillkürlich die thematische Kompetenz an den Mitbewerber. Und genau das sorgt für den Shift einiger wandernden Prozentpunkte an die Partei, welche die thematische Kompetenz belegt.

„If you don’t own an issue, your rival will.“ – Petrocik (1996)1

In Deutschland lässt sich diese Dynamik klar zeigen: Bei Migration, Ordnung und kultureller Identität gilt die AfD laut Studien der Universität Mannheim (Schmitt-Beck 2022; Karlsen 2016) als themenführend, während CDU und SPD an Wahrnehmungskompetenz verlieren.23

Agenda Setting und Priming

Je häufiger ein Thema in Abgrenzung erwähnt wird, desto stärker prägt es die Wahrnehmung. Wenn die CDU fortlaufend betont, nichts mit der AfD zu tun zu haben, hält sie deren Themen im Diskurs präsent – verstärkend, nicht neutralisierend.4

3. Psychologische Resonanzmechanismen

Reaktanz

Wird eine Meinung als „verboten“ markiert, entsteht Trotz. Die Brandmauer erzeugt genau diesen Effekt: Bürger, die sich kulturell oder identitär nicht verstanden fühlen, wenden sich der AfD zu – weniger aus Ideologie, sondern als Reaktion auf Wahrnehmungsentzug.5 Das erklärt weitere Prozentpunkte im Shift zur AfD.

Spiral of Silence

Menschen äußern nur, was sie glauben, sagen zu dürfen. Je stärker konservative Themen tabuisiert werden, desto lauter erscheinen die Extreme. Die CDU verteidigt damit moralisch die Mitte, verliert sie aber kommunikativ.6

Gruppen-Polarisierung

Abgrenzung verstärkt Identität. Indem CDU und AfD sich gegenseitig als moralisch unvereinbar darstellen, stabilisieren sie ihre Gegensätze – und verhindern Heilung des Diskurses.7

4. Das systemische Paradox

Politisch: Die CDU verliert Resonanz, weil sie konservative Themen emotional nicht mehr halten kann. Psychologisch: Das Publikum spürt die Dissonanz zwischen Rhetorik und Realität. Gesellschaftlich: Ein Teil der Bürger sucht Zugehörigkeit dort, wo Resonanz vorgetäuscht wird.

So entsteht, was resonanzmedizinisch als politische Stenose beschrieben werden kann: Der Fluss gesellschaftlicher Verständigung ist blockiert.

5. Empirische Indizien für Deutungshoheitsverschiebung

  1. Correctiv-Analyse (2024): Neun Überschneidungen zwischen CDU- und AfD-Programmen in Migrationsfragen; unterschiedliche Rahmung: CDU ordnungsbasiert, AfD kulturkämpferisch.8
  2. Wirtschaftsdienst (2024): Programmatische Distanz bleibt groß, doch in der Wählerwahrnehmung verschiebt sich die Themenhoheit zugunsten der AfD, wo die CDU schweigt.9
  3. Friedrich-Ebert-Stiftung (2022): Studien zu rechtspopulistischen Resonanzräumen belegen, dass Entfremdung durch Nicht-Besetzung von Themen Radikalisierung verstärkt.10
  4. Uni Mannheim (2025): Konkurrenzangebote (z. B. Partei BSW) schwächen AfD-Bindung stärker als reine Isolation – Beleg dafür, dass eigene Themenbesetzung statt Brandmauer Wirkung zeigt.11

6. Ethik und Resonanzdiagnose

Ein gesunder demokratischer Organismus lebt vom Austausch, nicht von Immunisierung. Die Brandmauer ist kein Schutz, sondern ein Symptom von Angst. Sie sagt: „Wir trauen uns nicht, differenziert zu fühlen.“

Solange die CDU Themen wie Identität, Sicherheitsgefühl und Integrationsgrenzen nicht lebensbejahend formuliert, wird die AfD als einziges Sprachrohr jener Ängste wahrgenommen. Das ist kein ideologisches Problem, sondern ein Kommunikationsdefizit.

Wer Resonanz verweigert, erzeugt Radikalität.

7. Ausblick – Heilung durch Themenrückgewinnung

  1. Themeneigentümerschaft zurückerlangen: Sicherheit, Ordnung und Zugehörigkeit als menschliche Bedürfnisse verstehen – nicht als Bedrohung.

  2. Integrative Sprache statt Distanz: Differenzieren, ohne zu verdammen.

  3. Diskursive Verantwortung: Themen, die man meidet, verschwinden nicht – sie radikalisieren sich.

  4. Neue Mitte als Resonanzraum: Eine Politik, die wieder fühlt, statt nur reagiert, heilt die Demokratie.

8. Fazit

Die CDU verliert nicht, weil sie AfD-Positionen teilt, sondern weil sie Resonanzpunkte aufgibt. Eine Brandmauer ohne Bewusstsein ist kein moralisches Bollwerk, sondern ein Reflex. Politische Heilung beginnt dort, wo Gespräch wieder möglich wird – ohne Angst, ohne Zensur, ohne Projektion.

Die Mitte kann nur führen, wenn sie spricht. Schweigen ist keine Würde, es ist ein Machtvakuum.

Nachbemerkung zur politischen Verantwortung

Die dargestellten Mechanismen verdeutlichen, dass strukturelle Kommunikationsdefizite nicht allein auf Parteistrategien, sondern auf ein tieferliegendes Führungs- und Wahrnehmungsproblem hinweisen. Eine politische Elite, die auf Kontrolle statt auf Resonanz setzt, verliert das Gefühl für die Wirklichkeit ihrer eigenen Bevölkerung. Bevor politische Führung wieder Vertrauen herstellen kann, bedarf es einer inneren Heilung – eines Verständnisses für Frieden statt Aufrüstung, für soziale Stützung statt Misstrauen, und für die Bereitschaft, Verträge, Gesetze und Systeme im Licht des Lebens selbst zu prüfen. Ohne diese Rückbindung bleibt Führung technisch, aber nicht menschlich legitimiert.

Solange die CDU die Brandmauer braucht, hat sie aufgehört, Volkspartei zu sein. Wenn sie sie niederreißt, verliert sie ihre moralische Legitimation. Die CDU verliert, solange sie "das Spiel" spielt. Die einzige Lösung liegt in politischer Transzendenz: Sie könnte nur noch gewinnen, wenn sie das Spiel selbst verändert. Nämlich durch echte Erneuerung des Begriffs „konservativ“, die Leben, Würde und Verantwortung wieder einschließt. Um das zu erreichen muss der ECoH-Werkkosmos gelesen und verstanden werden.

Ethischer Rat der Menschheit (ECoH)

Publikation Nr. 25 · Oktober 2025


  1. Petrocik J.R. (1996). Issue Ownership in Presidential Elections. American Journal of Political Science, 40(3), 825–850. 

  2. Schmitt-Beck H. et al. (2022). The Changing German Voter. Oxford University Press. 

  3. Karlsen R. (2016). Political Values Count but Issue Ownership Decides? Politics and Policy, 44(4), 733–755. 

  4. McCombs M., Shaw D.L. (1972). The Agenda-Setting Function of Mass Media. Public Opinion Quarterly, 36(2), 176–187. 

  5. Brehm J.W. (1966). A Theory of Psychological Reactance. Academic Press; Steindl C. et al. (2015). Understanding Psychological Reactance. Zeitschrift für Psychologie, 223(4), 205–214. 

  6. Noelle-Neumann E. (1974). The Spiral of Silence: Public Opinion – Our Social Skin. University of Chicago Press. 

  7. Sunstein C.R. (2002). The Law of Group Polarization. Journal of Political Philosophy, 10(2), 175–195. 

  8. Correctiv (2024). Die Schnittmenge zwischen CDU und AfD. correctiv.org/spotlight-newsletter/die-schnittmenge-zwischen-cdu-und-afd 

  9. Zimmermann K. (2024). Parteienpositionen in Deutschland: Annäherung in der Mitte und zunehmende Distanz zur AfD. Wirtschaftsdienst, 104(12). 

  10. FES (2022). Right-Wing Populism in Europe: Resonance and Response. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. 

  11. Universität Mannheim (2025). BSW schwächt AfD stärker als erwartet. mannheim.de/newsroom (Pressemitteilung). 

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