Tigray: Systemische Unterlassung trotz humanitärer Strukturen

Von Timo Braun – veröffentlicht durch den Ethischer Rat der Menschheit

Dokumentationsfoto aus Tigray: Mehrere stark unterernährte Kinder und ältere Menschen liegen in provisorischen Unterkünften ohne ausreichende medizinische Versorgung.
Dokumentationsfoto aus Tigray: Mehrere stark unterernährte Kinder und ältere Menschen liegen in provisorischen Unterkünften ohne ausreichende medizinische Versorgung.

Am 21. Dezember 2025 wurde auf der Plattform X ein öffentlich zugänglicher Beitrag veröffentlicht, der eine akute humanitäre Eskalation in der äthiopischen Region Tigray dokumentiert.1 Der Beitrag beschreibt, dass Menschen seit über 20 Tagen ohne Zugang zu Nahrung, medizinischer Versorgung und humanitärer Hilfe sind. Begleitendes Bildmaterial zeigt schwere akute Mangelernährung (SAM) bei Kindern.

Bemerkenswert ist die gezielte Adressierung internationaler Institutionen. Damit ist öffentliche Kenntnisnahme hergestellt. Die Frage ist nicht, ob die Lage bekannt ist, sondern welche Konsequenzen daraus folgen.

1. Tigray seit 2020: Vertreibung ohne Rückkehr

Seit dem Kriegsausbruch 2020 ist Tigray geprägt von massiver Zerstörung, anhaltender Unsicherheit und hunderttausenden Binnenvertriebenen (IDPs). Besonders das Gebiet Western Tigray gilt weiterhin als nicht rückgabefähig. Rückkehrbewegungen bleiben blockiert.

Damit fehlen nicht nur Wohnraum und Sicherheit, sondern auch landwirtschaftliche Kernflächen. Humanitäre Hilfe ersetzt Normalität und wird dadurch lebensnotwendig.

2. Formale Einbettung in die humanitäre Architektur

Tigray ist formal vollständig in die internationale humanitäre Struktur eingebunden:

  • UN OCHA (Koordination)
  • World Food Programme (Nahrungsmittelhilfe)
  • UNICEF (Kinder, Ernährung, Wasser)
  • World Health Organization (Gesundheitssysteme)

Auf dem Papier besteht ein dichtes Hilfsnetz. In der Praxis ist dieses System jedoch extrem fragil.

3. Reale Engpässe der Versorgung

3.1 Zugang und Logistik

Tigray ist landlocked und von wenigen Versorgungskorridoren abhängig. Bereits kurze Unterbrechungen oder Verzögerungen an Checkpoints führen zu Marktverknappung und Preisexplosionen.

3.2 Treibstoff

Ohne Treibstoff keine Verteilung. Humanitäre Akteure berichten regelmäßig, dass vorhandene Hilfsgüter nicht ausgeliefert werden können, weil Transport und Klinikbetrieb stillstehen.

3.3 Finanzierung

Im Jahr 2025 verschärfte sich die globale Finanzierungskrise humanitärer Hilfe drastisch. Das World Food Programme musste in Äthiopien lebensrettende Ernährungsprogramme teilweise aussetzen oder reduzieren.2 UNICEF warnte zeitgleich vor Engpässen bei therapeutischer Spezialnahrung für schwer mangelernährte Kinder.3

4. Sichtbare Folgen

Die dokumentierten Bilder und Berichte zeigen:

  • schwere akute Mangelernährung
  • Ausfall therapeutischer Behandlung
  • überlastete oder nicht funktionsfähige Versorgungsstrukturen
  • IDP-Lager ohne ausreichende Versorgung

Diese Entwicklung ist keine Überraschung, sondern eine vorhersehbare Folge struktureller Engpässe.

5. Metasystem-Analyse: Warum das passiert

Humanitäre Hilfe ist kein autonomer Lebensstrom. Sie ist genehmigungs-, zugangs- und finanzierungsabhängig.

Wer Straßen, Treibstoff, Budgets und Verwaltung kontrolliert, kontrolliert faktisch die Versorgung – ohne offene Gewalt auszuüben.

Es braucht:

  • keinen offiziellen Belagerungsbefehl
  • keine erklärte Hungerpolitik

Es genügt:

  • nicht zu öffnen
  • nicht zu finanzieren
  • nicht durchzusetzen

Das Ergebnis ist strukturelle Gewalt durch Unterlassung.

6. Verantwortung ohne Personalisierung

Dieser Artikel erhebt keine strafrechtlichen Vorwürfe. Er stellt jedoch fest:

  • Die Lage ist bekannt.
  • Die Mechanismen sind dokumentiert.
  • Die Risiken sind seit Jahren vorhersehbar.

Wenn trotz dieses Wissens keine ausreichende Handlung erfolgt, handelt es sich nicht um Unwissen, sondern um systemische Unterlassung.

Schlussfolgerung

Tigray verhungert nicht, weil es keine Hilfe gäbe. Tigray verhungert, weil Hilfe systemisch nicht durchgesetzt wird.

Dies ist kein Zufall. Es ist eine Systemfolge.

Fußnoten


  1. Öffentlicher X-Beitrag zur humanitären Eskalation in Tigray, 21.12.2025: https://x.com/i/status/2002996185569841410 

  2. World Food Programme: Warnungen und Programmstopps in Äthiopien aufgrund von Finanzierungsengpässen, 2025. 

  3. UNICEF: Humanitarian Action for Children 2025 – Warnungen zu Engpässen bei therapeutischer Spezialnahrung (RUTF). 

← Zurück zur Übersicht