Die soziale Zerreißprobe – Wenn Systeme Würde kosten
Von Timo Braun – veröffentlicht durch den Ethischer Rat der Menschheit

Immer deutlicher treten Risse zutage, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohen. Armut, Wohnungsnot und Migration werden politisch meist getrennt verhandelt – tatsächlich sind sie Ausdruck derselben Ursache: ein System, das Verantwortung externalisiert und Schuld umkehrt.
Die Wahrheit lautet: nicht der Mensch ist defizitär, sondern das System, das ihn in Enge zwingt.
1. Armut als Systemlogik
Armut in Deutschland ist kein Randphänomen mehr. Laut Statistischem Bundesamt leben etwa 15–17 % der Bevölkerung in relativer Armut ⬏ 1. Der Armutsbericht 2025 des Paritätischen Wohlfahrtsverbands spricht von rund 15,5 % Betroffenen – mit steigender Tendenz ⬏ 2.
So entsteht ein Paradox: je mehr das System produziert, desto mehr Menschen fallen durch seine Raster.
2. Wohnen als Brennglas
Die Wohnungsmärkte sind das sichtbarste Beispiel. Mietpreise explodieren, während Löhne stagnieren. Jobcenter zwingen Menschen in kleinere Wohnungen – mit der Begründung, „angemessen“ zu handeln. Doch „angemessen“ bedeutet in der Praxis oft Verlust von Raum, Rückzugsmöglichkeiten und Gesundheit.
Studien zeigen, dass Wohnungslosigkeit und Wohnungsnot eng mit psychischen Erkrankungen verknüpft sind: Drei Viertel der wohnungslosen Menschen in einer Berliner Untersuchung litten unter einer psychischen Erkrankung ⬏ 3. Weitere Forschung belegt, dass Wohnungsnot nicht nur ein ökonomisches, sondern ein seelisches Trauma darstellt und gesellschaftliche Teilhabe massiv einschränkt ⬏ 4 ⬏ 5.
Damit wird klar: Wohnungsnot ist nicht nur ökonomisch, sondern ein Angriff auf die seelische Stabilität.
3. Migration als Spiegel
Migrationspolitik verschärft die Zerreißprobe. Während einige Politiker Solidarität predigen, wächst im parlamentarischen Sprachgebrauch seit 2015 ein Trend zur Anti-Solidarität.
Das bedeutet: Integration wird zwar finanziell gefördert, gleichzeitig aber rhetorisch und praktisch erschwert.
Hier zeigt sich ein tieferer Mechanismus: Dogmen der Abgrenzung sollen innere Brüche überdecken. Die Gesellschaft projiziert ihre Unsicherheit auf „die Anderen“, statt die eigene Systemkrankheit zu behandeln.
4. Die Wahrheit der Schuldumkehr
Das Kernproblem ist die strukturelle Schuldumkehr: Menschen werden für Missstände verantwortlich gemacht, die sie nicht verursacht haben. Arbeitslose gelten als „unwillig“, Mietende als „fordernd“, Migranten als „Belastung“.
Die Sozialpsychologie zeigt: Schuldzuschreibung nach unten stabilisiert Hierarchien, nicht Wahrheit. Die wirkliche Ursache – Fehlsteuerungen in Finanz-, Wohnungs- und Arbeitsmarktpolitik – bleibt so unsichtbar.
5. Ansatz der Heilung
Heilung beginnt, wenn Dogmen sichtbar gemacht und aufgelöst werden:
- Armut ist kein persönliches Versagen, sondern ein Systemprodukt.
- Wohnen ist ein Menschenrecht, kein Handelsgut.
- Migration ist ein Resonanzphänomen globaler Ungleichheit, kein Bedrohungsszenario.
Wissenschaftlich anschlussfähig ist diese Perspektive durch Befunde der Armutsforschung, Resilienzpsychologie und Migrationssoziologie. Spirituell anschlussfähig ist sie, weil sie die Menschenwürde ins Zentrum stellt.
Schluss
Die soziale Zerreißprobe ist kein Naturgesetz. Sie ist menschengemacht – und damit veränderbar.
Der Ethische Rat der Menschheit erinnert: Würde darf niemals zur Verhandlungsmasse werden.
Wer sie schützt, heilt nicht nur das System, sondern den Menschen selbst.
Quellen
- [⬏ 1]: Statistisches Bundesamt: Einkommen und Lebensbedingungen, Armutsgefährdung. destatis.de
- [⬏ 2]: Der Paritätische Gesamtverband: Armutsbericht 2025. PDF
- [⬏ 3]: Knörle, U. (2022): Psychische Erkrankungen und Wohnungslosigkeit in Berlin. Dissertation, Freie Universität Berlin. refubium.fu-berlin.de
- [⬏ 4]: Schreiter, S. et al. (2020): Homelessness and mental illness: A systematic review. BMC Psychiatry. pmc.ncbi.nlm.nih.gov
- [⬏ 5]: Finzi, J.A. (2023): Wohnungsnot, Teilhabe und Stigmatisierung. In: Soziale Arbeit und Wohnen. Springer. springer.com