Bundesverfassungsgericht – Warum Widerstand der Test ist

Von Timo Braun – veröffentlicht durch den Ethischer Rat der Menschheit

Eingangsschild des Bundesverfassungsgerichts mit Bundesadler, daneben rote Protestschilder mit „Nein!“ – Symbol für Widerstand als Prüfstein von Integrität
Eingangsschild des Bundesverfassungsgerichts mit Bundesadler, daneben rote Protestschilder mit „Nein!“ – Symbol für Widerstand als Prüfstein von Integrität

Angriff als Prüfstein der Eignung

Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht geraten regelmäßig ins Kreuzfeuer, sobald sie Positionen vertreten, die den politischen Machtlinien widersprechen. Frauke Brosius-Gersdorf, die sich für eine Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ausgesprochen hatte, wurde unmittelbar Zielscheibe lautstarker Kampagnen.

Das Muster ist bekannt:

  • Relevanz erzeugt Widerstand – wer keine Angriffe erlebt, spielt keine Rolle.
  • Wahrheit provoziert – wer unabhängig spricht, stört etablierte Narrative.
  • Integrität bewährt sich erst im Konflikt – nicht in bequemen Durchwahlen.

Psychologische Fundamente

1. Resilienz als Kompetenz

Die Resilienzforschung (Werner, 1995; Rutter, 2012) zeigt: Menschen, die unter Druck standhalten, entwickeln besonders stabile Urteils- und Handlungsfähigkeit. Widerstand wirkt als „Stresstest“, der psychische Widerstandsfähigkeit sichtbar macht.

2. Stress und Leistung

Nach dem Yerkes-Dodson-Gesetz (1908, vielfach repliziert) steigt Leistung bei zunehmender Anspannung bis zu einem Punkt der Überforderung. Wer die „optimale Aktivierungszone“ beherrscht, kann in Extremsituationen klarer entscheiden. Genau diese Fähigkeit brauchen Verfassungsrichter – sie müssen unbeirrbar urteilen, auch wenn die Öffentlichkeit tobt.

3. Sozialer Druck und Konformität

Die Experimente von Solomon Asch (1951, 1956) belegten: Menschen neigen stark dazu, Mehrheitsmeinungen zu übernehmen, auch wenn sie objektiv falsch sind. Kandidaten fürs Bundesverfassungsgericht müssen genau dieser Konformitätsfalle widerstehen können. Standhaftigkeit gegen laute Stimmen ist ein zentrales Gütekriterium.

4. Mut zur Dissonanz

Festingers Theorie der kognitiven Dissonanz (1957) zeigt: Menschen suchen Harmonie zwischen Überzeugung und Umwelt. Wer bewusst in Dissonanz bleibt – also bei der Wahrheit trotz Gegenwind –, beweist ein seltenes Maß an innerer Stabilität.

Standhaftigkeit als Empfehlung

Aus diesen Erkenntnissen folgt:

  • Angriffe sind kein Makel, sondern Empfehlungsschreiben.
  • Wer standhält, beweist, dass er im Gericht den Druck von Politik, Öffentlichkeit und Medien aushalten kann.
  • Wer zu leicht ins Amt kommt, hat vielleicht nie ernsthaften Widerstand erfahren – und wird später weniger stabil urteilen.

Schlussfolgerung

Die Frage ist nicht, ob ein Kandidat wie Frauke Brosius-Gersdorf Angriffe aushält – sondern wie er mit ihnen umgeht. Widerstand ist kein Defizit, sondern die eigentliche Eignungsprüfung für das höchste Gericht.

Wer das Bundesverfassungsgericht verdient, zeigt sich nicht an der Abwesenheit von Kritik, sondern an der Fähigkeit, ihr standzuhalten.

Integrität beweist sich nicht im Konsens, sondern im Gegenwind.

Literatur

  • Asch, S. E. (1951). Effects of group pressure upon the modification and distortion of judgments. In H. Guetzkow (Ed.), Groups, leadership, and men. Pittsburgh, PA: Carnegie Press.
  • Asch, S. E. (1956). Studies of independence and conformity: I. A minority of one against a unanimous majority. Psychological Monographs, 70(9), 1–70.
  • Festinger, L. (1957). A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford University Press.
  • Rutter, M. (2012). Resilience as a dynamic concept. Development and Psychopathology, 24(2), 335–344.
  • Werner, E. E. (1995). Resilience in development. Current Directions in Psychological Science, 4(3), 81–85.
  • Yerkes, R. M., & Dodson, J. D. (1908). The relation of strength of stimulus to rapidity of habit-formation. Journal of Comparative Neurology and Psychology, 18(5), 459–482.
← Zurück zur Übersicht